Samstag, 19. März 2016

Lesen? Lesen! #3: Emanzipation im Islam. Eine Streitschrift jenseits von Klischees

Leipziger Buchmesse: 4 Tage, 4 Bücher.
Empfehlungen der Salonistas - interessante Neuerscheinungen von Frauen

Sollte Wellen schlagen: Sineb el Masrars Streitschrift gegen die Feinde der Emanzipation.        / Foto: L. Loges

Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind nicht ihr Fall. Denn Sineb el Masrar weiß: "Die Sache der muslimischen Frau ist viel komplexer." Mit "Emanzipation im Islam - eine Abrechnung mit ihren Feinden" hat die Tochter marokkanischer Einwanderer in Deutschland ein beeindruckendes Buch über die muslimische Frau geschrieben. Beeindruckend, weil es höchst meinungsstark ist, ohne einen einseitigen Blick zu vertreten. Ihre Forderung: Frauen, befreit euch!


Nach Mona Eltahawy, die eine sexuelle Revolution der arabischen Welt fordert, pocht hier wieder eine Muslima auf den längst fälligen Aufstand ihrer Glaubensschwestern gegen die Regeln, die Patriarchat und Traditionen ihnen über die Jahrhunderte auferlegt haben. Diesmal nicht nur, aber auch für die Muslimas, die im Westen leben und rein rechtlich gesehen gleichberechtigt mit ihren Brüdern wären - wenn da nicht so viele selbsternannte Traditionswächter*innen wären, die sie zurückhalten.

Die Geschichte der muslimischen Frau

Nicht nur das westliche Rechtssystem fußt auf Gleichberechtigung: auch die ursprünglichen Lehren des Islam haben wenig mit der Frauenfeindlichkeit zu tun, die in vielen muslimischen Familien und Gesellschaften heute praktiziert wird. Im Gegenteil: Noch zur Zeit des Propheten Mohammed waren Frauen sehr geschätzte Denkerinnen und Macherinnen in seiner neuen Lehre. Aber kaum war der Prophet verstorben, nahmen seine männlichen Erben den Frauen die Butter vom Brot. Und das hat Nachwirkungen bis in die heutige Zeit: männliche Machtspiele halten Frauen klein, nicht anders, als es im Westen auch passiert.

Das Ziel des Buches ist aber nicht die Neuinterpretation der Geschichte, sondern eine Anregung, die Chancen und Herausforderungen der heutigen Zeit zu meistern. Sineb el Masrar erklärt die Probleme heutiger Muslimas detailreich und auch für nicht in der Islamwissenschaft bewanderte Leserinnen verständlich. Sie prangert an, wie sehr die Frauen sich die Macht haben wegnehmen lassen. Mehr noch: sie fordert, dass sie sie sich zurückholen.

Von Hinterhof-Moscheen und Selfies in Mekka

Scharfsinnig und kritisch, ohne dabei oberlehrerhaft zu werden, erläutert die Autorin die Probleme, mit denen junge Muslime beiderlei Geschlechts heute in Europa konfrontiert sind: mangelnde Akzeptanz durch Nichtmuslime und fehlendes Wissen über die eigene Religion machen sie zu leichter Beute für salafistische Prediger.

Das Ergebnis ist fatal: junge Menschen folgen blind einem Glauben, den sie nicht verstehen. Selfies junger Burschen in Mekka sind da noch eine harmlosere Ausprägung. Gefährlicher ist die immer wieder propagierte - und vom Westen kritiklos angenommene - Ausschließlichkeit westlicher Freiheitswerte und dem muslimischen Glauben.

Wer dieses Buch aufschlägt, wird keine einfachen Lösungen zu lesen bekommen, sondern sorgfältig theologisch und historisch belegte Erklärungen eines komplexen Phämomens. Während el Masrars erstes Buch "Muslim Girls" vor allem die Lebenswirklichkeit der deutschen Muslimas erklärte, geht "Emanzipation im Islam" direkt an die Fundamente des Glaubens.

Eine Expertin, die den Namen verdient

Sineb el Masrar ist nicht nur - wie sie selbst beschreibt - die Tochter von tiefgläubigen Eltern und Urenkelin eines Kadi, eines islamischen Rechtsgelehrten, sondern vor allem auch aktive Teilnehmerin am interkulturellen Dialog in Deutschland. 2010 bis 2013 war die Journalistin Teilnehmerin der Deutschen Islamkonferenz, zuvor schon Mitglied der Arbeitsgruppe "Medien und Integration" der Integrationskonferenz im Kanzleramt. 2006 gründete sie das multikultirelle Frauenmagazin Gazelle.

Sie sucht Erklärungen in den vielen verschiedenen Strömungen des Islam, in der Situation muslimischer Einwanderer in Europa, in der Frauengeschichte.
Dabei scheut sie sich aber nicht, den Finger in die Wunde zu legen. Für halbherziges Gejammer fehlt ihr die Geduld, und weder den Machtanspruch muslimischer Patriarchen noch die Intoleranz der weißen Nichtmuslime ist sie bereit zu akzeptieren.

Schlussendlich sind aber die Muslimas die Angesprochenen dieser Streitschrift, denen el Masrar zuruft: "Traut euch! Nehmt euch die Macht, denn schenken wird sie euch keiner."


"Emanzipation im Islam - eine Abrechnung mit ihren Feinden", Sineb el Masrar, Herder Verlag, 2016, 24,99 Euro.

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Lesen? Lesen!

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Sineb El Masrar in Frau TV vom WDR: Sehenswertes Porträt

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