Donnerstag, 17. März 2016

Lesen? Lesen! #1: Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen

Leipziger Buchmesse: 4 Tage, 4 Bücher.
Empfehlungen der Salonistas - interessante Neuerscheinungen von Frauen

In bester Nachbarschaft zu Büchern über den Holocaust: Die Erinnerungen von Eva Umlauf       / Foto: C. Olderdissen

„Weint nicht. Wer tätowiert wird, wurde für das Leben ausgesucht“, raunt der KZ-Häftling den Frauen und Kindern in der Warteschlange zu. Eva Umlauf und ihre Mutter sind gerade in Auschwitz angekommen. Statt sofort in die Gaskammer geschickt zu werden, wie die meisten jüdischen Frauen und ihre Kinder, stehen die beiden an für die Tätowierung der Häftlingsnummer. Mutter Agnes erhält "A 27958", Tochter Eva "A 27959". Die Nummer passt kaum auf den kleinen Arm des noch nicht mal zwei Jahre alten Mädchens. Ein halbes Jahr später wird Auschwitz von der Roten Armee befreit. Eva Umlauf gehört zu den wenigen Kindern, die das Vernichtungslager überlebt haben. Aber erst jetzt, mit über 70, erzählt sie ihre Geschichte in dem Buch „Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“.


Ein Herzinfarkt war Eva Umlaufs Wake-Up-Call. Die 72-jährige hatte ihr Leben gelebt, ohne über die KZ-Zeit nachzudenken oder gar nachzuforschen. Und doch saß die Erfahrung in jeder Faser ihres Körpers, war das Mal der Tätowierung jeden Tag auf ihrem Arm zu sehen. Wie so viele andere Überlebende sprach sie nicht darüber. Schlimmer noch, sie wusste kaum etwas über diesen Lebensabschnitt. Als Kleinkind in der Maschinerie des Todes gewesen zu sein, bedeutet, keine Erinnerung zu haben, jedenfalls nicht bewusst. Erst ab dem dritten Lebensjahr, mit der Entwicklung der Sprache, setzt das Gedächtnis ein. Da war Eva schon befreit und lebte mit Mutter und Schwester Nora, noch in Auschwitz geboren, wieder in der Slowakei. Agnes, die Mutter? Sie schwieg. Und Eva? Sie fragte nicht.

Reise in die Vergangenheit


Nun aber der Herzinfarkt. Die Kinderärztin und Psychotherapeutin mit Wohnsitz München, Mutter von drei erwachsenen Söhnen, begibt sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Sie fährt nach Bratislava, Yad Vashem und Auschwitz. Sie sucht Zeitzeugen, Menschen, die ihr und ihrer Familie damals begegnet sind, konfrontiert sich mit den ihr unbekannten Aspekten der eigenen Geschichte. An ihrer Seite die Journalistin und jb-Kollegin Stefanie Oswalt. 2014, bei einer Lesung ihres Buches „Ari heisst Löwe“ war Eva Umlauf auf sie zugekommen. Die Zeit war reif.

Die Historikerin, promoviert in jüdischen Studien, nimmt den Faden auf, recherchiert, führt Korrespondenzen, begleitet Eva Umlauf an die vergessenen Orte und schreibt den Weg des Erinnerns nieder. Obwohl in der „Ich“-Form gehalten, versteckt sich Stefanie Oswalt nicht als Ghostwriterin, sondern steht mit auf dem Buchtitel. Das macht deutlich, die Intensität der Recherche war nur zu zweit und professionell zu bewältigen. Interessant deshalb auch die Fußnoten für die Quellen im Anhang. Mit Eva Umlaufs Erinnerungen wird auch das eher unbekannte Kapitel der Nazi-Verfolgung der slowakischen Juden erzählt - und das Wiederaufflammen des Antisemitismus, während die Tschechoslowakei zur sozialistischen CSSR mutiert. Schon allein diese historischen Fakten machen das Buch so lesenswert.

"Die Nummer auf deinem Unterarm ..." widmet sich auch der Geschichte des Weiterlebens. Der Entmenschlichung der Lagerhaft entkommen, sehnt sich Agnes nach festen Strukturen und verschafft sich und ihren Kindern mit der Rückkehr in den slowakischen Heimatort wieder ein geregeltes Leben. Eine Decke des Schweigens wird über die Vergangenheit gebreitet. Für Traumabewältigung bleibt da kein Raum. Auch Eva blendet vieles aus, was den Schmerz hochholen könnte. Nicht einmal bei ihrem ersten Mann Jakob, ein polnischer Jude, der sie 1967 nach München holt, nimmt sie wahr, dass auf seinem Unterarm eine Häftlingstätowierung prangt.

Frauen im KZ unter "ferner liefen"


Eva Umlauf hielt ihre Geschichte lange Zeit für unwichtig. Was sind schon die Erlebnisse eines Kindes, fragte sie sich, verglichen mit dem Leidensweg erwachsener Männer wie Primo Levi, Elie Wiesel und Imre Kertézs, die mit ihren KZ-Erinnerungen als Schriftsteller Weltruhm erlangt haben, bis hin zum Literaturnobelpreis. Und doch, das Kleinmachen, das Marginalisieren der Frauenschicksale in der Nazizeit, hat System.

Ruth Klüger, 85, KZ-Überlebende, Literaturwissenschaftlerin und Autorin, u.a. des Buches „Weiter leben“, schreibt am 9. Mai 2014 in einer Email an Stefanie Oswalt:
„Die weibliche Erfahrung ist traditionell uninteressant, wenn es sich nicht um Liebe und Gebären handelt. (…) Im Falle der KZs waren Frauen unter „ferner liefen“ zu suchen, was natürlich lange den Drang, unsere Geschichten zu erzählen, gedämpft hat.“
Mit dem Buch von Eva Umlauf und Stefanie Oswalt ist ein weiteres Mosaiksteinchen der Holocaust-Aufarbeitung hinzugefügt worden. Ein Buch, in dem es um das Erleben des Nazigräuels aus Sicht von Frauen und ihren Kindern geht. Und um die Langzeitfolgen. Dazu musste erst eine der jüngsten KZ-Überlebenden ihr Schweigen brechen. Im Alter von 72 Jahren.




„Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“, Erinnerungen.
Eva Umlauf mit Stefanie Oswalt, Hoffmann und Campe Verlag, März 2016, 22,- Euro.


Lesungen:

Heute: 17.3.2016, 20 Uhr, Eva Umlauf liest im Literaturhaus München
7.4.2016, 20 Uhr, Lesung mit Eva Umlauf und Stefanie Oswalt, Literaturhaus Berlin


Morgen rezensiert Tina Stadlmayer "50 Shades of Merkel" von Julia Schramm

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